Wenn man Konstanten in Blochs Leben sucht, ist wohl die einzige, so kann man vielleicht zugespitzt sagen, das "Noch-Nicht". Dieser Hauptgedanke seiner Philosophie spiegelt sich in seinem Leben und umgekehrt spiegelt sich sein wechselvolles Wander- und Exilleben in diesem Noch-Nicht. Er war nicht sesshaft, er hätte zum Beispiel nie wie Martin Heidegger anstelle von Berlin für den Schwarzwald votiert. Der Philosoph der konkreten Utopie lebt nicht bodenständig, Heimat steht für ihn noch aus. Ernst Bloch lebte für sein Werk; übrigens von Jugend an, die sein Werk auch im Kontrast der Städte Ludwigshafen und Mannheim prägt.

Über 60 Jahre später, im letzten Buch Experimentum mundi, spricht der Philosoph wieder von seinen Schriften und nennt als Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung. Darüber ist zu diskutieren. Denn in der neueren Forschung besteht eine Tendenz, den Geist der Utopie als das eigentliche Hauptwerk anzusehen. Das Prinzip Hoffnung zeigt sich in solcher Sicht als enzyklopädische Ausweitung des früheren produktiven Impulses von Geist der Utopie – natürlich verbunden mit konzeptionellen Abwandlungen beim Materiebegriff und den geschichtsphilosophischen Vorstellungen in Bezug auf den Fortschritt. Ein weiteres Indiz: Burghart Schmidt, Assistent Blochs bei der Herausgabe der Schriften, erzählt, dass der reife Bloch im vertrauten Gespräch Das Prinzip Hoffnung durchaus zum Nebenprodukt erklärt habe.

Was damit gesagt werden soll: die Etikettierung Ernst Blochs als "Philosoph der Hoffnung", zu der er freilich selbst beigetragen hat, erscheint bei genauerer Betrachtung hinterfragungswürdig; erstens durch den Begriff der ‚docta spes‘, weil sich die Hoffnung an der objektiv-realen Möglichkeit berichtigt – Bloch nennt diese Berichtigung ‚Tendenzkunde‘ – zweitens deshalb, weil das Gesamtwerk vielschichtiger, nicht monolithisch ist.

Ausgangspunkt oder Kern dieser Philosophie ist das Noch-Nicht. (Wayne Hudson hat in seiner Bloch-Monographie (London 1982, S. 20) die verschiedenen Definitionen dieses Blochschen Begriffs erläutert.) Daraus folgen, abgeleitet die weiteren Begriffe: Utopie, belehrte Hoffnung, reale Möglichkeit, Prozess, Materie, aufrechter Gang, Religion im Erbe, Vor-Schein in den Künsten. Wir greifen einige heraus: Utopie, Materie, aufrechter Gang, Religion und Ästhetik.

Zum Utopie-Begriff

In einem Gespräch (abgedruckt im Interview-Band Gespräche, Frankfurt a. M.: edition suhrkamp, 1975, S. 51) sagt Ernst Bloch: "Utopie, wie das Wort in der normalen Sprache umgeht: ‚Ja, das ist alles schön und gut, aber das scheint mir utopisch‘, ist ein Schimpfwort gewesen." Der Philosoph hielt sich zugute, schon im Deutschland der Kaiserzeit gegen diesen negativen Wortgebrauch angekämpft zu haben. In der jetzigen Utopie-Diskussion seit dem Ende des sogenannten ‚real existierenden Sozialismus‘ ist die Utopie wieder in Misskredit gekommen.

Aber welcher Begriff von Utopie wird entwickelt? Bloch hat nicht, wie viele vor ihm, eine bestimmte Utopie aufgestellt. Was in der gegenwärtigen Utopie-Diskussion oft übersehen wird: Die Blochsche Utopie ist keine feste Vorstellung, sondern offen für weitere Erfahrungen; sie ist auch nicht einfach übergestülpt ohne Berücksichtigung der Interessen der Individuen. Die Zukunft liegt in einer "Dämmerung nach vorn"; wir wissen das Bessere inhaltlich noch nicht, doch wir wissen immerhin, dass Nero, dass Hitler inhuman waren, dass wir Not, Ausbeutung, Unterdrückung nicht als unabänderlich hinnehmen dürfen.

Die "utopische Funktion", wie Ernst Bloch sie nennt, ist aber nicht nur die Grundfunktion unseres Geistes, die sich in Erwartung, Antizipation und Phantasie äußert; Bloch bestimmt im Buch Das Materialismusproblem sogar die Materie als noch unvollendet, offen, als Schoß von Möglichkeiten. Die Welt ist "laboratorium possibilis salutis", Laboratorium des möglichen Heils. Utopia ist nicht das Land, das es nirgends gibt (das keinen Ort hat, ou-topos), sondern das dem Menschen wie der Materie innewohnende bewegende Agens, welches gegen alles Unfertige steht. Utopie geht also weit über den Raum der Sozial-Utopien hinaus. Das wird im Prinzip Hoffnung deutlich, wo die Sozial-Utopien nur eine Facette bilden, neben den Utopien in der Technik, Architektur, in geographischen Entdeckungsfahrten, in Malerei, Dichtung oder Musik, und, last but not least, in der Religion.

Das wird auch schon im Frühwerk Geist der Utopie von 1918 deutlich. Wir heute können den messianischen Impetus nur noch schwer nachvollziehen, der hinter diesem expressionistischen Frühwerk steht. Ernst Bloch ist nämlich auch ein Exponent der gnostischen und apokalyptischen Geistesströmungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Außerdem wird die Lebensphilosophie – die durch Georg Simmel und Henri Bergson auf Bloch gewirkt hat – damals metaphysisch umgedeutet, etwa bei Walter Benjamin, der Bloch stark beeinflusste. Trotz aller Differenzierungen steht Bloch in diesem Denkhorizont.

Das Ziel ist gnostisch gedacht. Nach Bloch erlangt der Mensch selbst gottgleichen Rang, "in einer paradoxen Einheit von Theologie und Atheismus", wie Theodor W. Adorno erklärt. So heißt es ja dann auch viele Jahre später im Prinzip Hoffnung-Finale: "Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende [...]."

Diese Blochsche Verbindung von Theologie und Atheismus war es auch, die dem Philosophen in Ostdeutschland den Hass der Parteidogmatiker zuzog; entsprechend trägt eine der schärfsten Polemiken den Titel "Der religiöse Charakter von E.B.s Hoffnungsphilosophie" (so ein Aufsatz von Manfred Buhr, zuerst Blochs Assistent, danach sein Gegner, 1958).

Am Geist der Utopie-Kapitel "Karl Marx, der Tod und die Apokalypse" zeigt sich der Stellenwert von Sozial-Utopie, und damit auch von Marx, im Blochschen System und zwar im Grunde genommen durchgängig bis zuletzt. Er sagt, der Marxsche Atheismus müsse um das "fälschlich preisgegebene" theologische Moment ergänzt werden. Und weiter: „Was wirtschaftlich kommen soll, die notwendige ökonomisch-institutionelle Änderung, ist bei Marx bestimmt", keineswegs jedoch all die transzendierenden Momente, "die neuen, eigentlichsten Abenteuer des freigelegten Lebens, das Wozu". Die Marxsche Sozialkonstruktion müsse eingebracht werden in eine metaphysische Perspektive. Notwendig sei es daher, "Marx in den oberen Raum einzustellen […], die Sozialkonstruktion wieder in die utopisch überlegene Liebeswelt Tolstois, in die neue Mächtigkeit Dostojewskischer Menschenbegegnungen, in den Adventismus der Ketzergeschichte einzubringen." (Bloch: Geist der Utopie, GA, Bd. 3, S. 303 u. 306)

Fazit: Blochs Philosophie der Utopie hat ein geschichtsphilosophisch offenes Konzept und zugleich eine metaphysische, eschatologische Komponente, bleibt aber in der Ontologie des Noch-Nicht und der Docta spes "konkrete Utopie".

Der Begriff der Materie

Die Materie ist nach Bloch als das Grundprinzip des Noch-Nicht-Seienden zu begreifen. Entscheidende Impulse für die Herausbildung der eigenen Position verdankt Bloch vor allem Aristoteles und Hegel. Aristoteles´ Möglichkeitsbegriff bzw. Entelechie und Hegels Dialektik bilden für ihn konstitutive Momente seines Materiebegriffs. Die Art und Weise, wie sich die Materie bestimmt, nennt Bloch "experimentum mundi", das Weltexperiment, das als Kosmogonie, Evolution und Geschichte abläuft. Was sich da bildet, artikuliert sich elementar in den Rahmenkategorien der Zeit und des Raumes, in den Transmissionskategorien der Kausalität und Finalität sowie in den Gebietskategorien wie Natur und Geschichte (Bloch: Experimentum mundi, GA, Bd. 15, S. 68). Eine Zielperspektive wird sichtbar: Dasjenige, worauf der Weltprozess teleologisch hinläuft, erscheint in Blochs Deutung als die Selbstexplikation des Realisierenden hinter aller Realisierung.

Wie man sieht, wird der Materie alles zugetraut, sie ist Mutterschoß des utopischen Noch-Nicht. Blochs Materialismus zeigt somit wesentlich spekulative Züge. Materie ist Möglichkeit.

"Von der Materie als einer offenen kann nicht groß genug gedacht werden, als einer selber spekulativ beschaffenen im angegebenen Sinn des objektiv-realen In-Möglichkeit-Seins, das ebenso der Schoß wie der unerledigte Horizont ihrer Gestalten ist" (Bloch: Das Materialismusproblem, GA, Bd. 7, S. 469).

Die Wirklichkeit ist möglichkeitsgeladen, mit latenter, gleichsam lauernder, hochbrisanter Realpotenz zum Novum. Einerseits ist jeder faktische Weltzustand offen, andererseits ist Möglichkeit als reale mehr als bloßer Gedanke oder Wunsch, nämlich materiell fundiert.

Die Natur ist nicht mehr nur natura naturata, geschaffene Natur, sondern wird als natura naturans verstanden, als selbst formenschaffende Materie. Das in den Dingen wirkende Agens ist für Bloch so etwas wie ein "Subjektkern in der Natur" (Bloch: Experimentum mundi, GA, Bd. 15, S. 218).

Die Materie soll also Subjekt des Naturprozesses sein, aktiv, selbsttätig, formbildend. Warum ist sie das? Blochs Antwort: aufgrund der ihr inhärierenden Dialektik, die sie beständig zum Novum weitertreibt (Bloch: Experimentum mundi, GA, Bd. 15, S. 229). Die Verbindung von Aristotelischem Möglichkeitsbegriff und Hegelscher Dialektik macht das Charakteristikum des Blochschen Materialismus aus: Die Dialektik steuert zur Möglichkeit gleichsam die Selbsttätigkeit bei, die das Weltexperiment beständig zum Novum weitertreibt, wobei auf jene zentrale Hegelsche Einsicht rekurriert ist, derzufolge quantitative Veränderung zum dialektischen Umschlag in eine neue Qualität führt, so wie z.B. durch quantitative Abkühlung von Wasser plötzlich Eiskristalle entstehen. Zahllose Naturprozesse, etwa chemische Reaktionen, zeigen diesen Aspekt des qualitativen Umschlags.

Am Ziel wäre der Weltprozess dann, wenn die letzte Wahrheit der Natur, das Ende der Geschichte, die "Heimat", erreicht ist. Im Hintergrund steht die Marxsche Idee einer humanisierten Natur und eines naturalisierten Menschen, eines Zustandes, in dem Natur und Mensch in Symbiose vereint sind. So vollkommen, als Reich der Freiheit, stellt sich das Ziel in Blochs Vollendungsvision dar.

Der aufrechte Gang

"Was rechtens sei? – darum kommt man nicht herum. Diese Frage lässt immer aufhorchen, sie drängt und richtet." So beginnt das Buch Naturrecht und menschliche Würde. Hier sieht Bloch eine konkrete Utopie, sozusagen die juristische Dimension seines Heimatbegriffs. Dabei geht es um "Humanismus in Aktion [...]. Die Etablierung des aufrechten Ganges [...] – es ist ein Postulat aus dem Naturrecht [...]." (Bloch: Naturrecht und menschliche Würde, GA, Bd. 6, S. 12) Bloch erkennt das bestimmende und unwandelbare Element am Rechtsbewusstsein in dessen freiheitlichem Impuls, der freilich noch der Klärung bedarf.

Im Vordergrund steht die eminent politische Seite der Rechtsphilosophie. Blochs Liebe gilt dem aufrührerischen, wider menschenunwürdige Verhältnisse protestierenden Aspekt, mit deutlichem Seitenhieb auch gegen dogmatisch-marxistische Herrschaftsverhärtungen. "Daß weder menschliche Würde ohne ökonomische Befreiung möglich ist noch diese, jenseits von Unternehmern und Unternommenen jeder Art, ohne die Sache Menschenrechte." (Bloch: Naturrecht, S.13) Es ist das Pathos der Freiheit der Person, welches als Sprengkraft gegen Obrigkeiten wirkt, erfüllt von der Ahnung des wahrhaft Humanen. Mit dem Naturrecht von unten verbindet sich die Absage an die Gerechtigkeit von oben, die jedem austeilend seine Ration vorschreibt.

Gerechtigkeit ist also wesentlich das Produkt eines historischen Kampfgeschehens als Antwort auf Rechtlosigkeit und Unterdrückung. Echtes Naturrecht lässt sich für Bloch weder aus angeborenen Rechten, aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, aus der Vernunft, noch auf der Grundlage einer konsensualen Rechtstheorie begründen. Der Vorstellung von angeborenen Rechten steht seine Anthropologie entgegen, "sie sind alle erworben oder müssen im Kampf noch erworben werden" (Bloch: Naturrecht, S. 215). Und was Konsensrechtsmodelle betrifft, so können auch sie keine natürlichen Rechte legitimieren, da nicht haltbar sei, dass die Menschen in Rechtsansichten einig sind.

Blochs Rechtsphilosophie erschließt sich erst, wenn man ihre Verquickung mit der eschatologischen Dimension der Hoffnung erkennt. Ihre Legitimation erfolgt vom Ende des historischen Prozesses in Richtung "Heimat". Auf dem Weg dorthin können förmliche Rechte, auch Menschenrechte, einen gewissen Wert haben. Aber es wäre ein gründliches Missverständnis, Bloch deswegen als den Rechtsphilosophen der Menschenrechte zu vereinnahmen. Sein Rechtsverständnis ist revolutionär, und er sieht die Menschheit noch lange nicht dort angekommen, wo sie nach seiner Auffassung enden soll. So erkennt er in der Forderung nach Freiheit und Gleichheit nur die Richtung, zu der der Mensch berufen ist, wenn er nicht seine eigene Möglichkeit verfehlen will.

Freiheit ist deshalb für Bloch nicht die bürgerliche Formel ‚Freiheit und Eigentum‘, diese ist für ihn die statische Ordnung des Egoismus. Freiheit existiert vielmehr darum, weil die Welt offen und noch nicht herausprozessiert ist. Ihr Bezugspunkt ist das künftige Reich der Freiheit. Und Gleichheit ist für Bloch vor allem ökonomisch definiert, als Abschaffung der Unterschiede von arm und reich. Den Kern der Menschenwürde macht die Möglichkeit aus, ein nicht mehr entfremdeter Mensch zu sein. Diese politisch-soziale Lesart bildet die Wurzel von Blochs Humanismusvorstellung.

Menschenwürde besteht nur in dem Maß, wie der Mensch als Produzent seiner eigenen Geschichte die Menschenwürde politisch erarbeitet und erkämpft. Sie steht und fällt mit der Aktivität des Einzelnen, mit der dieser den Geschichtsprozess auf seine Erfüllung in Richtung einer zukünftigen Heimat hin befördert.

Exkurs: Blochs Verhältnis zu Marxismus, Stalinismus und Sozialismus

War Bloch Marxist? Eine Frage, über die man streiten kann. Er wurde "deutscher Philosoph der Oktoberrevolution" genannt (Oskar Negt). Heutigen Forschern, z. B. Arno Münster, erscheint das zu eindimensional. Zwar hat Bloch ausgerufen: "Ubi Lenin, ibi Jerusalem" (was ihm viele Feinde schuf), andererseits sagte er mehrfach, Marxist zu sein sei "epigonal". Er war wohl kein Marxist im engeren Sinn, hat jedoch Marx in seine Philosophie eingebaut. Viele andere als nur Marx, nämlich Aristoteles und die Bibel (die Propheten), Leibniz, Kant, Schelling, Hegel oder Nietzsche etc. haben auf diese Philosophie miteingewirkt.

Blochs allzu lange durchgehaltene Loyalität zur Sowjetunion Stalins hat seinem Ansehen sehr geschadet. Man muss aber das Problem zunächst einmal aus der Zeitgenossenschaft sehen. In den 30er Jahren erschien die Sowjetunion vielen als einzige Sicherheit gegen den in Europa wachsenden Faschismus, und um 1950 in Leipzig wollte er, der rückgekehrte Emigrant, der jetzt Boden unter den Füßen hatte, nicht schwankend werden. Es bleibt ein unerklärbarer Rest, ähnlich wie bei Heidegger und seiner Identifikation mit dem Nazismus. Vielleicht steckt ein gewisser Systemzwang dahinter: das "Noch-Nicht" soll schon irgendwo manifest werden!

Ernst Bloch ist durch verschiedene Formen des Sozialismus gegangen, manchmal begeistert, manchmal enttäuscht, und hat sich immer wieder engagiert. Es ging ihm um die Moral, um den "aufrechten Gang". So war er im Ersten Weltkrieg Pazifist, in der Weimarer Republik Sympathisant der Kommunisten, ohne Mitglied der Partei zu sein, in der DDR kritischer Sozialist und ein zuletzt Geächteter, in der Bundesrepublik demokratischer Sozialist.

Zur Religion bei Bloch

Ernst Bloch hat die religiöse Komponente, die im Frühwerk Geist der Utopie angelegt war, 50 Jahre später im Buch Atheismus im Christentum entfaltet. Zur Religion des Exodus und des Reichs. Das Buch hatte eine besonders starke Wirkung; die sogenannte Theologie der Hoffnung (Johann Baptist Metz, Jürgen Moltmann und andere) und die Theologie der Befreiung sind von ihm mit inspiriert.

Bloch geht es darum, die Geltung der religiösen Wunschbilder herauszuarbeiten und zu zeigen, dass das in ihnen enthaltene Streben nach Erfüllung berechtigt ist. Das Reich Gottes wird so zum utopischen Begriff dessen, was bei Marx mit "Reich der Freiheit" gemeint war. Ernst Bloch liest die Bibel als ein revolutionäres Buch der Offenbarwerdung des "Humanum absconditum", des (noch) verborgenen Menschen. So gehört Theologie, wenn auch in einem Spannungsverhältnis, unabdingbar in den Zusammenhang seines Systems; und so hatten seine Gegner in den 50erJahren in Ostdeutschland durchaus Grund, ihn als verkappten Metaphysiker zu attackieren.

Denn Bloch ist ein religiöser Denker, kraft der Intensität, mit der er religiöse Erfahrungen aufnimmt und denkend verwandelt, besonders eindringlich an der zentralen Erfahrung des Volkes Israel, dem Exodus, und der der Christen, dem Menschensohn. Und er versucht, beide Impulse seiner Philosophie, die Idee einer Befreiung der "Erniedrigten und Beleidigten", also den Gehalt der Sozial-Utopien, und den Gehalt der Bibel zu verbinden. In den Religionen glüht die Frage nach dem unausgemachten Sinn des Lebens, und sie halten Lösungen auf die Frage nach dem Wohin und Wozu bereit. Daher rührt das Interesse Blochs an den Religionen.

Der Begriff "Religion im Erbe" will sagen, dass die Religion ein im Menschen angelegtes Vermögen der Freiheit ist, die Welt zu überschreiten, ohne auf dem Boden einer bisherigen Gottesvorstellung zu bleiben. "Ontologie des Noch-Nicht-Seins steht auf dem Niveau der alten Metaphysik, mit völlig verändertem Gebäude; neue Metaphysik und konkrete Utopie sind Synonyme, geeint im Transzendieren ohne Transzendenz." (Bloch: Atheismus im Christentum, GA, Bd. 13, S. 356) Glaube an Gott als "eigene Wesenheit" (Bloch: Das Prinzip Hoffnung, GA, Bd. 5, S. 1413) sei reine Fiktion. Aber diese Eliminierung der Gottesvorstellung, ihre Entlarvung als bloße Chimäre, hat ja keine Eliminierung des Raumes zur Folge, in den hinein sie projiziert worden ist. Diesen Raum bestimmt Bloch als den religiösen Hohlraum, der zu beerben sei.

"Die Stelle, die in den einzelnen Religionen durch das unter Gott Gedachte besetzt [...] worden ist, ist nach Wegfall ihrer scheinrealen Ausfüllung nicht selber weggefallen. Denn sie erhält sich allemal als Projektionsort an der Spitze utopisch-radikaler Intention; und das metaphysische Korrelat zu dieser Projektion bleibt das Verborgene […], das real Mögliche im Geheimnis-Sinn." (Bloch: Das Prinzip Hoffnung, GA, Bd. 5, S. 1412)

Das letzte Ziel im Bewusstsein der Religionen verhält sich nach Bloch zur philosophischen Gedankenklärung wie der Affekt Hoffnung zur begriffenen Hoffnung ("docta spes"). Der Blochsche Begriff der "Meta-Religion" (Bloch: Das Prinzip Hoffnung, GA, Bd. 5, S. 1521) bedeutet "nicht einfach keine Religion, sondern […] Erbe an ihr." (Bloch: Das Prinzip Hoffnung, GA, Bd. 5, S. 1414)

So wird auch der Satz "Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein. Nur ein Christ kann ein guter Atheist sein" verständlich. Historisch und sachlich ist und bleibt das Christentum die unabdingbare Voraussetzung für den Atheismus, denn erst das Christentum brachte die Idee der "religiösen Intention" in die Welt. Aber erst der Atheist ist in der Lage, das, was das Christentum schon immer (un-begriffen) will, explizit zu intendieren.

Zur Ästhetik Blochs

Bloch hat einen ungeheuren Bildungshorizont. Das Ausmaß seiner Lektüre und Kunstkenntnis scheint unbegrenzt. Das gilt für alle Künste, für Musik, Architektur, Malerei etc.) Aber es bleibt nicht beim historischen oder gar bei einem rückwärtsgewandten Interesse, sondern er sucht den "utopischen Gehalt" in den Kunstwerken, das Uneingelöste, das "Unabgegoltene", das uns "verpflichtend entgegenkommt" und unmittelbar angeht.

In den Kunstwerken scheint – Blochs Ästhetik der Antizipation zufolge – das Noch-Nicht in der Skala seiner Möglichkeiten voraus. Kunst ist Vor-Schein, Vor-Schein des besseren Möglichen; sie warnt uns davor, die vorhandene Unvollkommenheit als endgültig hinzunehmen.

Die Ästhetik durchzieht das ganze Werk Blochs. Das führt zu der umstrittenen Frage: Ist er überhaupt ein Philosoph im engeren Sinn des Wortes? Oder ist Bloch eher ein Schriftsteller? Es gibt ähnliche Fälle, über deren Zugehörigkeit zur Philosophie diskutiert wird, zum Beispiel Nietzsche. Zwei kompetente Stimmen sind Lukács und Adorno. Lukács sagt, dass er Bloch für einen der geistvollsten Schriftsteller hält, die er überhaupt kennt. Es sei "ein merkwürdiger Stil, eine Mischung aus Hebels Schatzkästlein und Hegels Phänomenologie des Geistes, in der Geschichte der deutschen Prosa etwas ganz Einmaliges [...]." Ganz ähnlich schätzt Adorno Ernst Bloch als einen großen expressionistischen Schriftsteller und hat die beiden Aufsätze über Bloch, nämlich über Geist der Utopie und über die Spuren, bezeichnenderweise nicht in ein Hauptwerk, sondern in seine Noten zur Literatur aufgenommen, also Bloch nicht als Philosophen aufgefasst. Übrigens war Bloch ja faktisch die meiste Zeit seines Lebens freier Autor. Er gehört in die Reihe der deutschen Essayisten des 20. Jahrhunderts. Es gibt sogar Stimmen, die Das Prinzip Hoffnung für einen gigantischen Essay erklären (Schmied-Kowarzik). Das kommt nicht zuletzt daher, dass Bloch in einem literarisch ausgearbeiteten Stil schreibt. Ein Brief (13.2.1955) an seinen Verlagslektor, der über die vielen Korrekturgänge verzweifelt war, entschuldigt das mit den Worten: "Wenn nur meine Liebe zu einem treffenden Deutsch nicht so ausgeprägt wäre [...]." Um eine ausgefeilte Sprache haben sich zwar auch andere Philosophen bemüht, sie taten dies aber unter dem Primat des Gedankens; bei Bloch ist es umgekehrt: im Vordergrund steht die sprachliche Gestaltung von Bildern, Metaphern, Erlebnissen, Geschichten – und durch diese hindurch kommt der Gedanke zum Ausdruck. Charakteristisch die musikalische Struktur: Jeweils kurze Sätze am Anfang, dann breite Ausführung.

Geschichten – das ist das Stichwort, um noch kurz etwas über das am stärksten literarisch gefärbte Buch Spuren zu sagen, in dem Bloch recht eigentlich er selber ist, in dem der narrative Denker seine "poetische Sendung" (ein Bonmot von Hans Mayer) verwirklicht. Die Spuren gehören zur literarischen Gattung der Kurzprosa, sie sind aus verschiedenen Formen zusammengesetzt, aus Anekdoten, Märchen, Gleichnissen, kurz gesagt: aus philosophischen Skizzen. Sie entstanden über viele Jahre hinweg, zwischen 1910 und 1930, in der letzten Ausgabe 1969 wurden noch viele spätere hinzugefügt. Der Philosoph bezeichnete dieses Buch als sein "menschlich am meisten" bewegendes Buch und stellte es bewusst als Band 1 an den Beginn seiner Gesamtausgabe.

"Man achte gerade auf kleine Dinge", heißt es im Vorwort. Am geringfügigen Detail, an Alltagserlebnissen, erwacht ein philosophisches Staunen. Gesucht werden die Spuren der Rätsel dieser Welt. Oft geht es in den Texten um die Identitätsfindung, besonders schön in "Ein Inkognito vor sich selber". Auf die uralte philosophische Frage „Was ist der Mensch?“ antwortet Bloch in den Spuren: "Der Mensch ist etwas, was erst noch gefunden werden muß".